4/12 2013

Sport für psychisch Kranke gibt es doch

Von Gerd C. Schneider

Vaihingen (sir). Seit seinem 16. Lebensjahr ist er psychisch erkrankt. Er hat sich nicht versteckt und geht auch heute immer wieder an die Öffentlichkeit. Wohl wissend, dass er damit manchen auch nervt. Achim Haubennestel ist bekannt als Sportler der Kampfkünste und als Kämpfer gegen die Stigmatisierung seiner Krankheit.

Achim Haubennestel: „Es gibt Tage, an denen ich die Leistung nicht erbringen kann. Wenn alles zusammen kommt, dann kann ich Leistung zeigen. Ich gehe regelmäßig ins Training, lasse mich aber nicht unter Druck setzen.“ Foto: privat

Achim Haubennestel lässt sich nur auf der Matte in die Ecke stellen. Seine psychische Erkrankung, die bipolare Störung, bestimmt sein Leben. Damit zu leben, das ist sein Leben.

Warum aber treibt der Vaihinger mit so viel Hingabe Sport in verschiedener Ausführung? Weil „der Breitensport als Lebenselixier hilft, mit der Krankheit besser zurecht zu kommen“, sagt der seit drei Tagen 44-Jährige und wirbt fürs Sporttreiben auch oder gerade als psychisch Kranker. Schließlich sei belegt, dass Ausdauersport die Ausschüttung der Endorphine anregt und antidepressiv wirkt. Meditation stärkt körperliches und seelisches Wohlbefinden durch atembetonende Bewegungsabläufe.

Das propagiert Haubennestel. Gleichzeitig sagt er: „Sport für psychisch Kranke gibt’s eigentlich nicht.“

Sollte es aber geben, folgt man Haubennestel und den Zahlen, dass der Anteil psychisch Erkrankter in der Bevölkerung bei mehr als zwei Millionen Menschen liegt. Weitere Störungen noch nicht einmal mitgerechnet. Und mit Psychopathen oder Insassen der forensischen Psychiatrie will Haubennestel ohnehin nicht unter einen Hut gesteckt werden, wie er deutlich sagt.

Öffentlich sei das Problem erst durch Menschen wie Skiflieger Sven Hannawald geworden, die Haubennestel „Edel-Psychisch-Kranke“ nennt. Weil es den Sport für psychisch Kranke aber nicht gebe, hat ihn Haubennestel für sich geschaffen. Sein Lebensweg durch die sportlichen Betätigungen war meist steinig, und auch Edel-Helfer wie Eberhard Gienger und der jetzige IOC-Präsident Thomas Bach konnten ihm nicht wirklich helfen. Besonders mit dem Weltmeister am Reck, Ebse Gienger, habe er regen Kontakt gehabt. Doch, glaubt Haubennestel, für Giengers Partei war das Thema wohl ein „zu heißes Eisen“.

Es ist aber auch nicht einfach zu verstehen, das weiß der Betroffene selbst. Mit Druck umzugehen, scheint eines der Probleme für psychisch Erkrankte zu sein. Was zunächst einmal gegen intensives Sporttreiben mit Wettkampfcharakter sprechen dürfte. „Es gibt Tage, an denen ich die Leistung nicht erbringen kann. Wenn alles zusammen kommt, dann kann ich Leistung zeigen“, versucht Haubennestel sich zu erklären. Die Konsequenz für den Sport in seinem Leben: „Ich gehe regelmäßig ins Training, lasse mich aber nicht unter Druck setzen.“

Druck!

Druck ist von Übel. Das sei allgemein so bei psychischen Erkrankungen. Deshalb sei Sport bei diesen Erkrankungen nicht unumstritten. Viele schlechte Erfahrungen säumen Haubennestels Weg als Sportler. Einst wurde er mal zugelassen bei einem Wettkampf der Behinderten, dann aber wieder aus der Wertung genommen. Er war enttäuscht damals und frustriert, er habe sich diskriminiert gefühlt. „Selbst unter meinesgleichen“, klagt er und schüttelt heute noch den Kopf.

Was tun aus Frust? Mail an Gienger geschickt. Der hat sich gemeldet. Halbe Stunde Telefonat. „Er hat sich bemüht, was zu bewegen. Das ist aber leider im Sand verlaufen.“ Siehe oben, die große Politik. „Es gibt halt zu wenig bekannte Fälle international“, sagt er. Deshalb tun sich gerade psychisch Erkrankte schwer. „Sport mit psychisch Kranken fristet selbst im Deutschen Behinderten-Sportbund ein stiefmütterliches Dasein.“ Sagt Haubennestel.

Der Karateverband sei der einzige Verband, der deutsche Meisterschaften anbiete. An den ersten Wettkämpfen „Karate für Menschen mit Behinderung“ habe er nicht teilgenommen, weil „mein Verein mich damals nicht unterstützt hat“. Als er dann hätte dabei sein dürfen, wurde der in Vaihingen Geborene und in verschiedenen Orten an der Enz Aufgewachsene gleich Meister.

Weltmeister wäre auch noch so ein Traum. Der von der WM 2014 in Bremen war aber schnell ausgeträumt: „Ich kann nicht mitmachen, meine Kategorie ist nicht vertreten.“ Das alte Problem: Bei der Einteilung in geistig Behinderte, Rollstuhlfahrer und Blinde ist – wieder einmal – kein Platz für die psychisch Behinderten. Dann werde er weiter „an normalen Turnieren mit ganz normalen Gesunden teilnehmen. Egal, in welcher Klasse“, sagt er trotzig.

Bei seinen Sportarten, Haubennestel sagt Kampfkünste statt Kampfsport, lässt sich der Familienvater nicht in Schubladen pressen und schon gar nicht unter Druck setzen. Gleichgültig, ob Judo und Karate und welchen Disziplinen auch immer, ob Tai Chi, Qi Gong oder andere – „ich bin spezialisiert auf eine breite Fächerung“. Haubennestel gesteht seinen Kritikern sogar zu, dass dieses Denken „keiner verstehen“ wird.

„Ich bin dankbar, dass ich mich nie auf eine Seite habe ziehen lassen“, sagt er.

Gerne würde er zu den World Games nach Kanada reisen, um dort erfolgreich zu sein wie bei den vergangenen World Martial Arts Games in Bregenz und beim Europacup in diesem Jahr, als er bei der EM-ähnlichen Veranstaltung gleich dreimal gewann. Oder bei den nationalen Titelkämpfen im Behinderten-Karate, bei denen er fünfmal hintereinander Meister geworden sei. Er könnte sich also schon bei den WMAG messen, denkt Haubennestel, aber Richmond sei einfach zu weit weg.

Tief in die Psyche geht es und wird für den Außenstehenden schnell schwierig zu verstehen, wenn Haubennestel erklärt, dass es auch bei ihm nicht ohne den gefürchteten Druck gehe. „Man braucht Druck. Man kann keine Leistung bringen ohne Druck und Konkurrenten“, sagt er.

Ein Widerspruch, fürwahr.

Der Druck dürfe nicht zu hoch werden. „Es geht nur, wenn man stabil ist“, liefert Haubennestel den Versuch einer Antwort.

Bei Judo und Karate, den harten Kampfkünsten in Haubennestels Klassifizierung, powert er sich aus. Aber nicht, wenn er nicht stabil sei. Da lasse er das Training schon mal ausfallen, wenn es körperlich und vor allem psychisch fehle. Da setzt wohl die Kritik alter Wegbegleiter in seinem früheren Verein an. Haubennestel sieht es, in einem Satz zusammengefasst, so: „Ich sollte einmal pro Woche zum Training antreten und hatte die Freiheit nicht, dem Druck zu entgehen“.

Die Folge waren, wie einst in Schule und Ausbildung, Dissonanzen zwischen Verein, Trainer und Sportler. Wechsel gehörten dazu, Trainertätigkeiten in verschiedenen Bereichen und Vereinen und schließlich die Neugründung eines eigenen Vereins, der Goju Jutsu Union. „Ich will nicht im Bösen zurückblicken und dankbar sein für das, was ich gelernt habe“, sagt Haubennestel und schaut nach vorne.

„Gesundheitssport“ steht auf seinen Union-Fahnen. Die Ideen gehen ihm nicht aus: Für 2014 plant er, „reinen Gesundheitssport mit einem Mix aus Karate und Tai Chi“ anzubieten.

Haubennestels Kampf für die Bedürfnisse psychisch Kranker geht weiter. Der einstige Trainer und Lehrer für Yoga, Judo, Karate, Tai Chi und Qi Gong möchte erreichen, dass Sport für psychisch Kranke auf gleiche Höhe gestellt wird wie die Medikamente.

Privat geben ihm Frau und die drei Kindern im Alter von sechs, fünf und zwei Jahren Rückhalt. „Die Familie hält mich gesund“, sagt er. Und schlägt sofort wieder die Brücke zum selbstgemachten Sport.

Sein Hauptanliegen sieht er darin, die Stigmatisierung aufzulösen. Anerkennung als Mensch mit besonderen Bedürfnissen zu erlangen. Alles auf den drei Säulen der Stabilität: Familie und soziales Umfeld, Medikamente und Mediziner, Sport.

Den Spruch „Sport für psychisch Kranke gibt’s eigentlich nicht“ gibt es bei Achim Haubennestel eigentlich nicht.